Neue Zürcher Zeitung 23. Juni 2001
Gedanken zum Wohlstandsbauch und Kummerspeck
Von Renate Weber
Sommer, Ferienzeit, Badesaison: Nun muss man Farbe bekennen - besser
gesagt, zu seinem Gewicht stehen oder schleunigst etwas daran ändern.
Wobei das bekanntlich leichter gesagt ist als getan. Doch der Blick in
den Spiegel auf die winterblassen Rundungen (an der falschen Stelle)
und auf die mehr als barocken Fettpolster lässt keinen Zweifel daran,
dass es so nicht weitergehen kann, dass man dem Übergewicht radikal zu
Leibe rücken muss. Nur wie?
Die Spargelkapseln, mit denen man es vor fünf Jahren versuchte,
enttäuschten, und die Ananasdragées im Jahr darauf waren ebenfalls
kein Hit. Auch mit den Magnetpflastern (wahlweise Kupferarmbändern)
kam man dem Ziel der Gewichtsnormalisierung keinen Schritt näher,
obwohl die Werbung «Fünf Kilo in zwei Wochen» in Aussicht stellte. Im
vergangenen Jahr hiess das Schlagwort «Fat-Burner», und genau das
wollte man schliesslich: das Fett verbrennen, ein für allemal
loswerden. Aber auch das entpuppte sich als Flop. Also doch wieder
FdH?
Keine Frage: Wenn es um Schlankheitskuren und Diäten geht, treibt die
Irrationalität tolle Blüten. Abnehmen wollen viele, doch die meisten
möchten dieses Ziel unter Beibehaltung der bisherigen
Lebensgewohnheiten erreichen - ohne grosse Eigeninitiative, ohne
Restriktionen und Verzicht. Und so bleibt für viele das Traumgewicht
ein Traum . . ., aus dem sich nicht selten ein Albtraum entwickelt,
weil es nicht gelingt, den gelegentlich spektakulären Diäterfolg
aufrechtzuerhalten. Genau: Es kommt zum gefürchteten Jo-Jo-Effekt. Was
heisst das? Auf die Gewichtsabnahme folgt eine recht konstante erneute
Zunahme, die das Ausgangsgewicht vor Diätbeginn nicht selten
übersteigt. Frustration total.
Gewichtige Probleme, auch in der Schweiz
Übergewicht wird heute definiert als Body-Mass-Index (BMI) über 25,
und dieses Kriterium erfüllen rund 30 Prozent der Erwachsenen in der
Schweiz. Der BMI errechnet sich aus dem Gewicht in Kilogramm, welches
durch das Quadrat der Körpergrösse in Metern dividiert wird.
Medizinisch grenzt man das Normalgewicht vom Übergewicht und von der
Adipositas unterschiedlicher Schweregrade ab, wobei diesen
Definitionen wiederum der BMI zugrunde liegt. Der Normalbereich
umfasst BMI-Werte zwischen 18,5 und 24,9. Von einem Übergewicht
spricht man bei einem BMI zwischen 25 und 29,9, und erst wenn der BMI
über 30 klettert, hat man es mit einer Adipositas zu tun, die mit
einem erhöhten bis sehr stark erhöhten Risiko (BMI grösser als 40) für
die verschiedensten Begleiterkrankungen einhergeht. Ein BMI von 30
liegt vor, wenn jemand bei einer Grösse von 160 cm 76,8 kg wiegt oder
bei einer Grösse von 180 cm 97,2 kg. Allerdings weiss man heute, dass
der BMI nicht das Mass aller Dinge ist, da es sich gezeigt hat, dass
das Fettverteilungsmuster eine entscheidende Rolle spielt.
Das Massband bringt es an den Tag: das unerwünschte
Fettverteilungsmuster mit einer überwiegenden Ablagerung des
überschüssigen Fettes im Bauchbereich, bekannt als abdominale
Adipositas. Doch weshalb ist sie besonders gefürchtet? Weil es bei
dieser Form der Adipositas, im Volksmund als Wohlstandsbauch
bezeichnet, zu einem deutlichen Anstieg des Erkrankungsrisikos kommt,
selbst bei einer vergleichsweise geringfügigen Zunahme des
Körpergewichts. Also ist neben der Gewichtskontrolle das regelmässige
Messen des Bauchumfangs von entscheidender Bedeutung, weil der
Bauchumfang das Risiko für Folgeerkrankungen des Übergewichts
bedeutend besser widerspiegelt als der BMI.
Wehret den Anfängen
Leider haben nicht nur die Erwachsenen erhebliche Gewichtsprobleme,
sondern bereits 15-20 Prozent der Kinder - vor allem dann, wenn die
Eltern schwergewichtig sind. Neben der genetischen Komponente spielen
Umfeld, Ess- und Lebensgewohnheiten sowie der Mangel an körperlicher
Aktivität eine wichtige Rolle. Nur noch in wenigen Familien gibt es
feste Essenszeiten: Das Frühstück fällt häufig aus, und in der Pause
stehen kalorienreiche Softdrinks und Süssigkeiten auf dem Plan. Das
Mittagessen muss bei vielen Kindern einer Mikrowellenpizza weichen
oder wird durch Fastfood ersetzt - und das gedankenverlorene,
unkontrollierte Essen vor dem Fernseher oder dem PC-Bildschirm ist
keine Ausnahme mehr. Die Konsequenz: eine Kalorienaufnahme, die in
keinem Verhältnis zum Bedarf steht. Kindliches Übergewicht korreliert
übrigens sehr gut und verlässlich mit dem täglichen TV-Konsum und mit
der Anzahl Autos pro Haushalt. Die Prognose für adipöse Kinder ist
alles andere als rosig, denn 80 Prozent werden auch im
Erwachsenenalter mit Gewichtsproblemen konfrontiert sein. Schon früh
kommt es bei solchen Kindern zu Stoffwechselentgleisungen und
bleibenden Schäden am Gefässsystem.
Die intensive Auseinandersetzung mit der Adipositas hat dazu geführt,
dass diese Gewichtsentgleisung als Risikofaktor für eine Vielzahl von
kardiovaskulären und metabolischen Komplikationen erkannt worden ist.
Das Risiko für eine koronare Herzkrankheit, für Hypertonie,
Schlaganfall und Typ-II-Diabetes ist bei Adipösen deutlich erhöht. Und
auf der anderen Seite hat bereits eine Gewichtsreduktion von 5-10
Prozent einen nachweislichen gesundheitlichen Benefit.
Die Kalorien sind an allem schuld
Keine Generation kannte sich so gut mit Kalorien, Nährwert und
Nährstoffen aus wie die unsrige und hatte gleichzeitig so viele
Probleme mit diesen Energielieferanten. Die Kalorien machen uns zu
schaffen - dabei hört sich die Definition ganz harmlos an, als könnten
sie kein Wässerchen trüben: «Eine Kalorie ist die Wärmemenge, die
benötigt wird, um ein Gramm Wasser von 14,5 auf 15,5 ºC zu erwärmen» -
und das macht so dick? Es sind die Kalorien, die wir über den
tatsächlichen Bedarf hinaus aufnehmen, einlagern (für schlechte
Zeiten) und nur mit Mühe wieder loswerden. Abgesehen davon haben
Kalorien per se etwas Beharrliches an sich: Denn der vor über 20
Jahren offiziell eingeführte Begriff «Joule» hatte in der Praxis so
gut wie keine Chance gegen den Oldtimer «Kalorie»: Oder haben Sie
schon mal über Joulesünden gesprochen oder die Joule gezählt? Was die
Akzeptanz weiter verschlechtert hat, ist die Tatsache, dass man die
Begriffe nicht einfach austauschen darf, sondern auch noch rechnen
muss, denn 1 kcal entspricht 4,1868 kJ.
Kalorien geben also den Energiegehalt von Lebensmitteln an, doch auch
hier gilt: Es lebe der kleine, feine Unterschied, denn Kalorie ist
nicht gleich Kalorie - und besonders schlimm sind leider die
Fettkalorien, die der Organismus quasi ohne grossen Aufwand deponieren
kann und de facto leider auch deponiert, an den ungünstigsten Stellen.
Experten in Sachen Ernährung warnen vor dem Fett und erinnern uns an
die versteckten Fette im Gebäck, in Saucen, in Milchprodukten und,
und, und. Wer schon einmal lustlos in einem Joghurt mit 0% Fett
herumgestochert hat, während andere am Tisch genüsslich ein
Sahne-Joghurt oder eine dieser griechischen Joghurt-Delikatessen auf
der Zunge zergehen liessen . . ., doch lassen wir das.
An der Fettreduktion führt kein Weg vorbei, das ist inzwischen
erwiesen. Denn von 100 Kalorien, die in Form von Fett aufgenommen
wurden, stehen 96 für die Speicherung (Fettpolster) zur Verfügung. Bei
den Kohlehydraten und beim Eiweiss sieht die Bilanz wesentlich
günstiger aus (wenn man abnehmen will), denn beide müssen erst unter
Verbrauch von Energie chemisch aufwendig umgebaut werden, bevor man
sie im Fettdepot speichern kann. Von 100 Kalorien aus Kohlehydraten
werden 80 gespeichert, und beim Eiweiss sind es lediglich 66 Kalorien,
die unter dem Strich übrig bleiben. Ein weiterer Nachteil der Fette
ist die hohe Nährstoffdichte: Ein Gramm Fett liefert 9 Kalorien,
während ein Gramm Kohlehydrate oder Eiweiss mit nur 4 Kalorien zu
Buche schlägt. Deshalb hinterlassen die kleinen Sahnehäubchen auf der
Torte und das Löffelchen Mayonnaise mit der Zeit deutliche Spuren.
Vom Überfluss zum Übergewicht?
Bereits wenn die tägliche Energiezufuhr den Bedarf nur um 20-30 kcal
übersteigt, kann das nach einem Jahr bedeuten, dass man etwa ein Kilo
mehr auf die Waage bringt. Daher die Devise: das Gewicht beibehalten
und der Konfektionsgrösse treu bleiben. Das wäre der Wunsch, doch die
Wirklichkeit sieht anders aus: Die Statistik hat gezeigt, dass
Fünfzigjährige im Mittel 15 Kilo schwerer sind als Zwanzigjährige, was
ein Pfund Übergewicht pro Lebensjahr bedeutet. Aus etwa 7000 Kalorien,
die - über's Jahr verteilt - über den Bedarf hinaus aufgenommen
werden, resultiert ein Kilo Übergewicht. Das sind die lächerlichen
20-30 kcal pro Tag, die sich summieren. Wenn man dann noch bedenkt,
dass die körperliche Aktivität mit zunehmendem Lebensalter eher
abnimmt, sei es aus Trägheit oder aus gesundheitlichen Gründen, dann
hat man die uns allen bestens bekannte Situation.
Also ab ins Fitness-Studio und schweisstreibende Programme
absolvieren? Das Stichwort sollte Wellness heissen, nach dem Motto:
Wissen, was mir gut tut! Bewegung und Sport sollen Spass machen und
möglichst in den Alltag integriert werden. Denn durch derartige
Aktivitäten lassen sich auch kleine Kaloriensünden ohne weiteres
ausbügeln. Gerade für die Gewichtsstabilisierung hat sich das
Bewegungsprogramm als unerlässlich herausgestellt. Wenn man jedoch
vorhat, sein Übergewicht - ohne Veränderung des Ernährungsverhaltens -
durch sportliche Aktivität in den Griff zu bekommen, dann hat man sich
viel vorgenommen, wie die Tabelle zeigt.
Wunsch und Wirklichkeit - beim Gewicht liegen Welten dazwischen. Die
praktischen Erfahrungen mit der Gewichtsreduktion in der Vergangenheit
waren mehr als ernüchternd, gleichgültig, wie das Gewicht reduziert
wurde. Das grösste Problem: die Stabilisierung des mühsam erreichten,
niedrigeren Gewichts. 70 Prozent der Abnehmwilligen sind bereits nach
sechs Monaten wieder beim Ausgangsgewicht angelangt, und nach zwei
Jahren liegt die Quote bei über 90 Prozent. Abgesehen davon möchten
die Übergewichtigen in der Mehrzahl mindestens ein Drittel des
aktuellen Gewichts verlieren, was jedoch nicht realistisch ist.
Realistisch und zugleich total demotivierend ist eine Gewichtsabnahme
um 5-10 Prozent. Wenn jemand 100 Kilo wiegt und dieses Übergewicht mit
enormer Anstrengung und bewusstem Verzicht auf 90 Kilo reduziert, dann
ist er ja keineswegs schlank - und vom gültigen Schönheitsideal so
weit entfernt wie eh und je. Der bekannte gesundheitliche Benefit ist
da kein Trost.
Und solche kosmetischen Überlegungen stehen hinter dem Wunsch, endlich
richtig abzunehmen: Schönheitsideale bestimmen die Erwartungshaltung.
Eine kürzlich veröffentlichte Repräsentativumfrage zum Schönheitsideal
2000 lässt daran keine Zweifel: «Vor allem schlank» war das Ideal der
Frauen (71 Prozent), während sich etwa gleich viele Männer für
«muskulös und durchtrainiert» entschieden. Und der grösste Wunsch der
Frauen? «Essen, ohne dick zu werden.»
Das Geheimnis normalen Körpergewichts
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Ursachen und
Therapiemöglichkeiten bei Adipositas ebenso intensiv wie kontrovers
diskutiert. Damals liebäugelte man vor allem mit den Hormonen: Erst
stand die Schilddrüsenunterfunktion im Verdacht, später tendierte man
mehr dazu, den Mangel an Keimdrüsenhormonen als Ursache für das
Übergewicht anzusehen. In der «Deutschen Apotheker-Zeitung» räumte
K. G. Krebs (Tübingen) mit diesen Vorstellungen gründlich auf:
171;Je weiter die Forschung über die Ursachen der Fettleibigkeit
voranschritt, desto klarer zeigte sich, dass an der Entstehung des
Krankheitsbildes die verschiedenartigsten Faktoren beteiligt sind und
dass ein Grundübel, das allen oder doch wenigstens den meisten Fällen
gemeinsam ist, nicht besteht . . . Und doch gibt es ein Hauptmerkmal,
das allen Fällen eigen ist und an dem die Therapie ansetzen kann . . .
Im neueren Schrifttum mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen,
dass die Manifestation der Adipositas - unabhängig von den genetischen
Zusammenhängen - auf einem Missverhältnis zwischen den aufgenommenen
Nahrungsmengen und dem individuellen Nahrungsbedarf beruht . . . Das
Missverhältnis zwischen den zugeführten und verbrauchten Kalorien
vergrössert sich beim Fettsüchtigen noch durch die mit dem Übergewicht
meist verbundene körperliche Trägheit.»
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