«Viele kleine Mahlzeiten sind der Schlüssel zur Gesundheit.» Diese
weitverbreitete Empfehlung entbehrt nicht nur jeglicher
wissenschaftlichen Grundlage, sondern ist im Gegenteil möglicherweise
sogar schädlich - vorausgesetzt, der Stoffwechsel ist intakt. Denn die
Hinweise mehren sich, dass gewisse Veränderungen des Stoffwechsels,
wie sie typischerweise nach dem Essen auftreten, das Risiko für
Herz-Kreislauf-Krankheiten fördern.
Nach dem Genuss einer Mahlzeit mit Fetten, Kohlenhydraten und Eiweiss
kommt es zu einem Anstieg von Blutzucker, Insulin und bestimmten
Blutfetten, vorab den sogenannten Triglyceriden. Diese akuten
Veränderungen unmittelbar im Anschluss ans Essen - während der
sogenannten postprandialen Phase - induzieren ihrerseits
verschiedenste biochemische Reaktionen. Dass die «Arterienverkalkung»
oder Atherosklerose zu einem grossen Teil durch solche
«postprandialen» Phänomene ausgelöst oder zumindest gefördert wird,
wurde bereits vor gut 20 Jahren erstmals postuliert. Doch erst in den
letzten 10 Jahren hat sich gezeigt, dass tatsächlich einiges für diese
kühne Hypothese spricht - allerdings schlägt sich dieses Wissen bis
heute kaum in der Praxis nieder.
Ungünstige Stoffwechsellage
Bei Personen ohne Stoffwechselstörung normalisiert sich der
postprandial erhöhte Blutzuckerspiegel innert etwa zweier Stunden. Die
Triglyceride jedoch erreichen erst nach rund vier Stunden einen
Maximalwert, um nach gut acht Stunden zum Ausgangswert zurückzukehren.
Zusammen mit anderen Fettpartikeln scheinen diese im Anschluss an eine
Mahlzeit erhöhten Triglycerid-Werte die Entwicklung der Atherosklerose
durch verschiedene Mechanismen zu fördern. Entsprechend zeigen
Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit im Vergleich zu gesunden
Kontrollpersonen nach einer standardisierten Testmahlzeit deutlich
höhere Triglycerid-Spiegel und benötigen erheblich mehr Zeit, um die
Fette wieder aus der Zirkulation zu klären. Diese verzögerte
Normalisierung der Blutfettspiegel hat verschiedene Veränderungen zur
Folge: Einerseits werden diejenigen Zellen, die das Gefässsystem
auskleiden (die sogenannten Endothelzellen), in ihrer Funktion
beeinträchtigt. Andererseits kommt es zu einem Abfall des schützenden
HDL-Cholesterins und zu weiteren biochemischen Veränderungen, die mit
einem erhöhten Thromboserisiko verbunden sind. Letzteres, so wird
vermutet, ist einer der Gründe dafür, dass Herzinfarkte oft nach einer
Mahlzeit auftreten.
Die ungünstigen Stoffwechselveränderungen im Anschluss ans Essen
werden durch zahlreiche «klassische» kardiovaskuläre Risikofaktoren
wie Übergewicht und Nikotinkonsum, körperliche Inaktivität, Stress
oder eine geringe Zufuhr an Omega-3-Fettsäuren zusätzlich gefördert.
Gleichzeitig machen diese Zusammenhänge aber auch klar, dass der
postprandiale Stoffwechsel schon mit einfachen Strategien erheblich
verbessert werden kann: Durch Verminderung bzw. Sistierung des
Nikotinkonsums beispielsweise steigen die Triglycerid-Spiegel im Blut
nach einer Mahlzeit bereits nach wenigen Tagen nicht mehr so
ausgeprägt an. Auch körperliche Aktivität vor einer Mahlzeit (z. B.
fünf Kilometer Joggen oder Laufen) wirkt sich auf die postprandiale
Verteilung der Blutfette günstig aus: Die durch die körperliche
Betätigung zum Teil entleerten muskulären Fettspeicher nehmen nach
einer Mahlzeit einen grossen Teil des zirkulierenden Nahrungsfettes
sofort auf. Trotz der Volksweisheit «Nach dem Essen sollst du ruhn
oder 1000 Schritte tun» führt dagegen körperliche Aktivität nach dem
Essen zu einem vergleichsweise geringeren Abfall der postprandial
erhöhten Triglycerid-Werte.
Der Einfluss der Gene
Nebst diesen Lebensstil-Faktoren spielen auch die Gene eine wichtige
Rolle. Dass die Triglyceride bei verschiedenen Personen
unterschiedlich effizient aus dem Blut entfernt werden, ist z. T.
durch genetisch bedingte Mangel- oder Fehlfunktionen der beteiligten
Enzyme bedingt. Dieses «Defizit» kann allerdings durch die oben
erwähnten Verhaltensänderungen zumindest teilweise ausgeglichen
werden. - Genetisch verankerte Grundlagen erklären auch die Tatsache,
dass die an sich «normale» postprandiale Blutfettverschiebung zum
Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Krankheiten geworden ist. In den
vergangenen Jahrtausenden war der Tagesablauf des Menschen
charakterisiert durch hohe körperliche Aktivität und verhältnismässig
geringe Nahrungszufuhr. Der damalige Mensch war froh, wenn er täglich
eine einzige Mahlzeit einnehmen konnte, meistens nach stunden- oder
gar tagelanger Nahrungssuche, d. h. in einer für die Verarbeitung
einer Mahlzeit optimalen Stoffwechselsituation.
Unterdessen sind gut 15 000 Jahre verstrichen, bei unveränderter
genetischer Grundlage hat sich der Ess- und Lebensstil dramatisch
verändert - und damit auch die typischen Krankheiten. Der moderne
Mensch bewegt sich kaum und nimmt täglich zahlreiche Mahlzeiten zu
sich, so dass ein Grossteil unserer Zeitgenossen 70 Prozent des Tages
oder mehr im ungünstigen postprandialen Zustand verbringt. Ist man
sich der genetischen Voraussetzungen bewusst, wird rasch klar, dass es
- für Personen mit normal funktionierendem Stoffwechsel - recht
einfach wäre, eine der Herz-Kreislauf-Gesundheit zuträgliche
Stoffwechsellage zu erzielen: Durch grössere Abstände zwischen den
einzelnen Mahlzeiten werden Blutzucker- und Insulin-Spitzen vermieden
sowie die Anstiege der Triglycerid-Spiegel gedämpft.
Paolo M. Suter, Privatdozent für Innere Medizin an der Universität
Zürich und Leiter der Hypertonie-Sprechstunde der Medizinischen
Poliklinik des Universitätsspitals.