Neue Zürcher Zeitung Dienstag, 26. Juni 2001
Janusköpfige Vitamin-Supplementierung
Nährstoffzusätze - nötig, überflüssig oder gefährlich?
«Supplemente» sollen den Ernährungs- und Gesundheitszustand
verbessern. Dazu gehören Substanzen wie Vitamine und Spurenelemente,
Nahrungsfasern sowie weitere, nicht nährende Stoffe wie Enzyme und
«Phytochemicals». Doch bis heute ist es nicht gelungen, die komplexe
Zusammensetzung eines Nahrungsmittels zu imitieren.
Ursprünglich sind Nährstoffsupplemente wie beispielsweise
Vitamintabletten für die Prävention und Behandlung eines
entsprechenden Mangels produziert und verschrieben worden. In den
letzten Jahren allerdings hat sich die Indikation für derartige
Zusätze verlagert: Es gilt nicht mehr, einen Mangel zu beheben.
Vielmehr will man mit derartigen Substanzen den verschiedensten
chronischen Leiden vorbeugen. Gleichzeitig hat auch ein
«Quantensprung» in der Dosierung stattgefunden. Reichen zur Vermeidung
und Therapie eines Vitaminmangels in der Regel wenige Milligramm eines
Nährstoffs, werden nun zur Prävention bestimmter chronischer
Krankheiten pharmakologische Dosen postuliert, so dass nicht von einer
Supplementierung, sondern tatsächlich von Pharmakotherapie gesprochen
werden kann.
Modische Antioxidantien
Die wohl bekanntesten Nährstoffsupplemente, die zur Vorbeugung
chronischer Erkrankungen - vor allem von Herz-Kreislauf-Krankheiten -
geschluckt werden, sind die Antioxidantien, zu denen beispielsweise
die Vitamine C und E, aber auch Spurenelemente wie Selen gehören.
Verschiedene epidemiologische Studien haben gezeigt, dass zwischen dem
Risiko für kardiovaskuläre Leiden und dem Blutspiegel an
Antioxidantien eine inverse Beziehung besteht: Je höher also die
Konzentration des jeweiligen Moleküls, desto geringer das
Krankheitsrisiko. Dass es sich dabei mindestens zum Teil lediglich um
ein Zusammentreffen ohne eigentliche Kausalität handelt, zeigen
gezielte Untersuchungen, bei denen die Supplementierung mit Vitamin E
die Wahrscheinlichkeit, an Herz-Kreislauf-Krankheiten zu sterben,
nicht verminderte. Im Gegensatz dazu zeigte sich in praktisch allen
Studien eine eindeutige inverse Beziehung zwischen dem Konsum von
Früchten und Gemüse und dem entsprechenden Krankheitsrisiko.
Bis heute spricht denn auch nichts dafür, dass sich bestimmte Nähr-
und andere Stoffe aus Supplementen auf die Gesundheit günstiger
auswirken, als wenn dieselben Substanzen mit der Nahrung aufgenommen
werden. Bedenkt man aber, dass die Anreicherung von Nahrungsmitteln
mit Vitaminen sowie die Einnahme von Multivitaminpräparaten heutzutage
üblich sind, besteht vielmehr das Risiko einer Überdosierung. So
wundert es nicht weiter, dass durch die pharmakologische Zufuhr von
einzelnen Nährstoffen sogar ein potenziell krankmachendes
Ungleichgewicht entstehen kann. Beispielsweise konnte gezeigt werden,
dass die Einnahme von Zink-Zusätzen die Kupfer-Aufnahme reduziert;
gleichzeitig fällt die Konzentration des schützenden HDL-Cholesterins
im Blut ab. In einer amerikanischen Studie wiesen 37 Prozent der
Probanden erhöhte Blutspiegel von Vitamin-A-Estern auf - dies
entspricht einer, langfristig unter Umständen nicht ungefährlichen,
Vitamin-A-Überdosierung.
Entsprechend warnen Fachleute vor potenziell schädlichen Folgen - bis
hin zu einem erhöhten Krebsrisiko -, die man sich mit dem
«Luxuskonsum» verschiedener Nährstoffe einhandeln kann. So hat sich
auf Grund verschiedener Untersuchungen gezeigt, dass Personen, die
rauchen und gleichzeitig ß-Karotin-Zusätze schlucken, ein erhöhtes
Lungenkrebs-Risiko haben. Als Reaktion auf diese Studienresultate sind
die Karotinoide umgehend als «gefährlich» eingestuft worden. Dass man
jedoch damit dieser Substanzklasse nicht gerecht wird, zeigt sich,
wenn man die grosse Gruppe der mehr als 600 verschiedenen Karotinoide
betrachtet: Stoffe wie Lykopen oder Lutein beispielsweise zeigen eine
deutlich stärkere antioxidative Wirkung als ß-Karotin. Es scheint
sogar, dass einige der Karotinoide der Entstehung von Tumoren und der
«senilen Makula-Degeneration» - einer wichtigen Ursache für die
Altersblindheit - entgegenwirken können.
Sowohl die günstigen wie auch die potenziell negativen Folgen von
Nährstoffsupplementen können nur in sogenannten randomisierten
Placebo-kontrollierten Studien mit Tausenden von Probanden belegt
werden. Da jedoch in den USA nahezu die Hälfte der Bevölkerung
irgendwelche Multivitaminpräparate konsumiert, ist es kaum mehr
möglich, eine genügend grosse Kontrollgruppe für derartige
Untersuchungen zu rekrutieren. Viele zurzeit noch offene Fragen werden
deshalb kaum je beantwortet werden können.
Sinnvolle Supplementierung
In gewissen Fällen ist es durchaus sinnvoll, zusätzliche Vitamine zu
schlucken. So wird Frauen im gebärfähigen Alter empfohlen,
Folsäurepräparate einzunehmen. Denn damit, so glaubt man heute, lässt
sich das Risiko eines Neuralrohrdefekts beim Ungeborenen vermindern.
Strenge Vegetarier dagegen profitieren von Vitamin-B12-Supplementen,
da dieses Vitamin nur in Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs
vorkommt. Sonnenscheue Kaukasier wiederum, vor allem aber auch
dunkelhäutige Bewohner der nördlichen Hemisphäre oder alte Menschen,
können mit Hilfe von Vitamin D und Kalziumzusätzen dem Verlust ihrer
Knochenmasse entgegenwirken. Auch bei Milchzucker-Unverträglichkeit
kann die Einnahme von Kalziumsupplementen angezeigt sein.
Generell ist der Einnahme von Vitaminen aus wissenschaftlicher Sicht
wenig entgegenzusetzen - vorausgesetzt, die Dosis übersteigt den
dreifachen Wert der aktuellen Empfehlungen nicht.
Paolo M. Suter, Privatdozent für Innere Medizin an der Universität
Zürich und Leiter der Hypertonie-Sprechstunde der Medizinischen
Poliklinik des Universitätsspitals.
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