Von Corinne Schlatter
Die Erinnerungen an die erste USA-Reise Anfang der achtziger Jahre sind bruchstückhaft. Haften geblieben ist einzig die Wahrnehmung einer Andersartigkeit, die allerdings weit mehr auf subjektiver Betrachtung denn auf konkreten Begebenheiten basiert. Aus dem verschwommenen Bild ragt jedoch ein Eindruck prägnant heraus: die Erinnerung an erschreckend viele dicke, ja fettleibige Menschen [Wann bin ich übergewichtig?]. Ganze Familien wälzten sich schon damals durchs Leben - wahnsinniges, krankes, degeneriertes Amerika! Zum Glück ist bei uns in Europa die Welt in Ordnung.
Der Schein trog. Zeitlich zwar verzögert, aber in adäquater Ausprägung hat sich Übergewicht in allen Industriestaaten wie auch in weniger entwickelten Ländern ausgebreitet. Wenn auch hierzulande (noch) nicht im gleichen Ausmass ersichtlich wie in den USA, untermauern Zahlen die These der Experten, die Übergewicht als die «globale Epidemie des 21. Jahrhunderts» bezeichnen. Laut einer repräsentativen nationalen Studie, von Michael Zimmermann am Human Nutrition Laboratory an der ETH Zürich mit 600 Sechs- bis Zwölfjährigen durchgeführt, leiden 22 bis 34 Prozent der Deutschschweizer Kinder an Übergewicht, 10 bis 16 Prozent sind sogar fettleibig - etwa gleich viele wie in den USA. Eine Erhebung aus Deutschland und Österreich zeigt überdies auf, dass 80 Prozent all jener, die zwischen 10 und 13 Jahren zu dick sind, auch als Erwachsene unter Übergewicht leiden.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO benennt die Fettleibigkeit als häufigste chronische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Dies ist erschreckend, zumal ein zu hoher Anteil von Fettgewebe an der Körpermasse einen wesentlichen gesundheitlichen Risikofaktor bedeutet: Häufige Folgeerscheinungen sind Arteriosklerose, Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen, Erkrankung der Gelenke und der Gallenblase, Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfall und Krebs. Ganz zu schweigen von den seelischen Schäden, die übergewichtige Kinder und Jugendliche nehmen.
Die Folgekrankheiten von Übergewicht seien in den USA die zweithäufigste Todesursache (nach Rauchen), erläutert Martin Schöni, Leiter der Kindermedizinischen Poliklinik der Universität Bern. Der Professor für Pädiatrie weist zudem darauf hin, dass dort mehr als 280 000 Menschen jährlich an besagten Folgekrankheiten sterben - Tendenz steigend. Die Zahlen beängstigen, denn hier auf dem alten Kontinent ist das Wachstum der Quote an Übergewichtigen im Vergleich zu Amerika nicht langsamer, sondern nur um zwei, drei Dekaden verzögert. Falls es nicht gelinge, in Bezug auf Übergewicht schon im Kindes- und Jugendalter wirksam vorzubeugen, dann werde in Zukunft ein gigantischer Aufwand des Bruttosozialproduktes für die Behandlung dicker Menschen notwendig sein, warnen die Fachleute.
Die internationalen Gesundheitsempfehlungen - täglich eine halbe Stunde moderates Bewegen (beispielsweise schnelles Marschieren) oder dreimal wöchentlich eine halbe Stunde intensive Aktivität (Sport, Schwitzen) - werden häufig nicht eingehalten. Weder von Erwachsenen noch von Kindern, die den Schulweg häufig nicht mehr zu Fuss zurücklegen und statt aktiv Fussball spielen lieber vor dem PC sitzen und den Ball virtuell ins Netz setzen. Im Gegenzug ist die Ernährung unausgewogener, üppiger und fettreicher geworden als noch vor zehn Jahren. Dicksein sei in 99 Prozent der Fälle eine Folge von zu viel Essen und habe nichts mit hormonellen oder genetischen Störungen zu tun, sagt Professor Schöni, der das in grossem Ausmass zunehmende Übergewicht bereits im Vorschulalter aus der Praxis bestätigt.
Ist das Übergewicht erst einmal angegessen, lasse es sich mit Bewegung allein nicht therapieren. Abhilfe schüfen nur sehr komplexe, gesamtheitliche und schwierig durchsetzbare (weil die ganze Familie mitmachen muss) Ernährungs- und Bewegungsprogramme, die Motivation, Bereitschaft, Durchhaltewillen, Disziplin und Kontrolle voraussetzten, führt der Kinderarzt weiter aus. Leider scheiterten diese oft an der Durchführbarkeit, weil das Umfeld häufig den dafür erforderlichen Zeitaufwand und das Umdenken im Alltag nicht erbringen könne. Mittel- bis langfristig betrachtet, liege die Problemlösung deshalb in der Prävention und in der Sensibilisierung. Es sei in diesem Zusammenhang die geradezu groteske Tatsache erwähnt, dass an vielen Schulen in den Pausen immer noch Schokolade verkauft werde.
Klar ist, dass künftig nicht nur mit bereits unter Übergewicht oder Fettleibigkeit leidenden Jugendlichen, sondern schon mit jüngeren Kindern und vor allem präventiv gearbeitet werden muss. Das Thema wird jedoch vielerorts noch tabuisiert oder verniedlicht, und häufig fehle - wie Professor Schöni anmerkt - das Kausalitätsbedürfnis. Das Jugendsekretariat des Bezirks Horgen beispielsweise, das im Rahmen der Elternbildung Ende Oktober den Kurs «Kinder und Übergewicht» angeboten hatte, musste wie andere Organisatoren analoger Lehrgänge mangels Nachfrage auf die Durchführung verzichten. Wie Jürg Steiger, der Geschäftsstellenleiter Elternbildung des Jugendsekretariats, ausführt, wird das Angebot im nächsten Kursprogramm jedoch wieder ausgeschrieben. Angesprochen werden Eltern von Sechs- bis Zwölfjährigen, die an Übergewicht leiden, wie auch Eltern und Bezugspersonen, die sich Sorgen um das Ernährungs- und Bewegungsverhalten ihrer Kinder machen.
Im Unterschied zu Adoleszenten und Jugendlichen stünden für Kinder weit mehr die Eltern im Zentrum, sagt Steiger zum Punkt, dass mit den Kursen wie demjenigen in Horgen im Gegensatz zu den Jugendprogrammen (zum Beispiel im «club minu») nicht die Betroffenen selber, sondern deren Bezugspersonen angesprochen werden. Die im Kurs engagierte Ernährungsberaterin Helena Kistler, die in diversen Präventionsprojekten mitarbeitet, führt die kindliche Übergewichtsproblematik auf das Fehlen eines geregelten Mahlzeitenservice, die Einseitigkeit der Ernährung, Gewohnheiten (Chips vor dem Fernsehen), mangelnde Regeln und fehlende Tischkultur (beispielsweise Selbstbedienung bei Süssigkeiten) sowie Bewegungsmangel (Kinder spielen je länger, je weniger im Freien, vielen Hobbys wird sitzend nachgegangen) zurück. Eine zentrale Ursache sei die (zu) frühe Selbstverantwortung.
Steiger weist darauf hin, dass mit Kursen dieses Genres, die von Ernährungsberatern, Sportlehrern, Psychologen und Familientherapeuten geführt werden, aufgezeigt werden könne, dass Kinder Vorbilder (Eltern oder andere Bezugspersonen) benötigen. Diese Vorbilder seien wichtig, um im Alltag ein ausgewogenes Ernährungs- und Bewegungsverhalten sowie ein starkes Selbstwert- und gutes Körpergefühl zu entwickeln. Dabei sollten keine Schuldfragen gestellt und sollte nicht mit Klischees operiert werden. Schwarze Pädagogik allein sei nicht angebracht. «Es braucht beides: abschreckende Bilder, aber auch Lösungswege.»
Eines ist gewiss: Die Thematik ist komplex, bedarf die Problemlösung doch vertiefter Reflexion und einer grundlegenden Änderung des Lebensstils. Dies zu vermitteln und gezielt zu informieren, dürfte in den nächsten Jahren zu den zentralsten gesundheitspolitischen Aufgaben werden. Vielleicht auch in Sportteilen von Zeitungen und Magazinen.
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