Neue Zürcher Zeitung Dienstag, 26. Juni 2001

Sechsmal oder dreimal pro Tag essen?

Häufige Mahlzeiten schaden dem Herzen

«Viele kleine Mahlzeiten sind der Schlüssel zur Gesundheit.» Diese weitverbreitete Empfehlung entbehrt nicht nur jeglicher wissenschaftlichen Grundlage, sondern ist im Gegenteil möglicherweise sogar schädlich - vorausgesetzt, der Stoffwechsel ist intakt. Denn die Hinweise mehren sich, dass gewisse Veränderungen des Stoffwechsels, wie sie typischerweise nach dem Essen auftreten, das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten fördern.

Nach dem Genuss einer Mahlzeit mit Fetten, Kohlenhydraten und Eiweiss kommt es zu einem Anstieg von Blutzucker, Insulin und bestimmten Blutfetten, vorab den sogenannten Triglyceriden. Diese akuten Veränderungen unmittelbar im Anschluss ans Essen - während der sogenannten postprandialen Phase - induzieren ihrerseits verschiedenste biochemische Reaktionen. Dass die «Arterienverkalkung» oder Atherosklerose zu einem grossen Teil durch solche «postprandialen» Phänomene ausgelöst oder zumindest gefördert wird, wurde bereits vor gut 20 Jahren erstmals postuliert. Doch erst in den letzten 10 Jahren hat sich gezeigt, dass tatsächlich einiges für diese kühne Hypothese spricht - allerdings schlägt sich dieses Wissen bis heute kaum in der Praxis nieder.

Ungünstige Stoffwechsellage

Bei Personen ohne Stoffwechselstörung normalisiert sich der postprandial erhöhte Blutzuckerspiegel innert etwa zweier Stunden. Die Triglyceride jedoch erreichen erst nach rund vier Stunden einen Maximalwert, um nach gut acht Stunden zum Ausgangswert zurückzukehren. Zusammen mit anderen Fettpartikeln scheinen diese im Anschluss an eine Mahlzeit erhöhten Triglycerid-Werte die Entwicklung der Atherosklerose durch verschiedene Mechanismen zu fördern. Entsprechend zeigen Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen nach einer standardisierten Testmahlzeit deutlich höhere Triglycerid-Spiegel und benötigen erheblich mehr Zeit, um die Fette wieder aus der Zirkulation zu klären. Diese verzögerte Normalisierung der Blutfettspiegel hat verschiedene Veränderungen zur Folge: Einerseits werden diejenigen Zellen, die das Gefässsystem auskleiden (die sogenannten Endothelzellen), in ihrer Funktion beeinträchtigt. Andererseits kommt es zu einem Abfall des schützenden HDL-Cholesterins und zu weiteren biochemischen Veränderungen, die mit einem erhöhten Thromboserisiko verbunden sind. Letzteres, so wird vermutet, ist einer der Gründe dafür, dass Herzinfarkte oft nach einer Mahlzeit auftreten.

Die ungünstigen Stoffwechselveränderungen im Anschluss ans Essen werden durch zahlreiche «klassische» kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Übergewicht und Nikotinkonsum, körperliche Inaktivität, Stress oder eine geringe Zufuhr an Omega-3-Fettsäuren zusätzlich gefördert. Gleichzeitig machen diese Zusammenhänge aber auch klar, dass der postprandiale Stoffwechsel schon mit einfachen Strategien erheblich verbessert werden kann: Durch Verminderung bzw. Sistierung des Nikotinkonsums beispielsweise steigen die Triglycerid-Spiegel im Blut nach einer Mahlzeit bereits nach wenigen Tagen nicht mehr so ausgeprägt an. Auch körperliche Aktivität vor einer Mahlzeit (z. B. fünf Kilometer Joggen oder Laufen) wirkt sich auf die postprandiale Verteilung der Blutfette günstig aus: Die durch die körperliche Betätigung zum Teil entleerten muskulären Fettspeicher nehmen nach einer Mahlzeit einen grossen Teil des zirkulierenden Nahrungsfettes sofort auf. Trotz der Volksweisheit «Nach dem Essen sollst du ruhn oder 1000 Schritte tun» führt dagegen körperliche Aktivität nach dem Essen zu einem vergleichsweise geringeren Abfall der postprandial erhöhten Triglycerid-Werte.

Der Einfluss der Gene

Nebst diesen Lebensstil-Faktoren spielen auch die Gene eine wichtige Rolle. Dass die Triglyceride bei verschiedenen Personen unterschiedlich effizient aus dem Blut entfernt werden, ist z. T. durch genetisch bedingte Mangel- oder Fehlfunktionen der beteiligten Enzyme bedingt. Dieses «Defizit» kann allerdings durch die oben erwähnten Verhaltensänderungen zumindest teilweise ausgeglichen werden. - Genetisch verankerte Grundlagen erklären auch die Tatsache, dass die an sich «normale» postprandiale Blutfettverschiebung zum Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Krankheiten geworden ist. In den vergangenen Jahrtausenden war der Tagesablauf des Menschen charakterisiert durch hohe körperliche Aktivität und verhältnismässig geringe Nahrungszufuhr. Der damalige Mensch war froh, wenn er täglich eine einzige Mahlzeit einnehmen konnte, meistens nach stunden- oder gar tagelanger Nahrungssuche, d. h. in einer für die Verarbeitung einer Mahlzeit optimalen Stoffwechselsituation.

Unterdessen sind gut 15 000 Jahre verstrichen, bei unveränderter genetischer Grundlage hat sich der Ess- und Lebensstil dramatisch verändert - und damit auch die typischen Krankheiten. Der moderne Mensch bewegt sich kaum und nimmt täglich zahlreiche Mahlzeiten zu sich, so dass ein Grossteil unserer Zeitgenossen 70 Prozent des Tages oder mehr im ungünstigen postprandialen Zustand verbringt. Ist man sich der genetischen Voraussetzungen bewusst, wird rasch klar, dass es - für Personen mit normal funktionierendem Stoffwechsel - recht einfach wäre, eine der Herz-Kreislauf-Gesundheit zuträgliche Stoffwechsellage zu erzielen: Durch grössere Abstände zwischen den einzelnen Mahlzeiten werden Blutzucker- und Insulin-Spitzen vermieden sowie die Anstiege der Triglycerid-Spiegel gedämpft.



Paolo M. Suter, Privatdozent für Innere Medizin an der Universität Zürich und Leiter der Hypertonie-Sprechstunde der Medizinischen Poliklinik des Universitätsspitals.

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