Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 13. Februar 2002, Nr.36, Seite 71
Muskelabbau und Fettansatz im Alter
Nicht das Alter ist schuld: Vermeidbarer Muskelabbau und Fettansatz
Im Alter schwinden die Muskeln nicht, wie lange Zeit angenommen, wegen
einer Reduktion der körpereigenen Eiweisssynthese. Die Ursachen liegen
eher in einer mangelhaften Ernährung, körperlicher Inaktivität und
möglicherweise hormonellen Veränderungen. Auch der im Alter häufige
Fettansatz ist keineswegs Schicksal.
hc. Ältere Menschen verlieren im Alter nicht selten viel Muskelmasse,
was zu geringerer Körperkraft und eingeschränkter Mobilität bis zum
Verlust der körperlichen Selbständigkeit führen kann. Stark abgebaute
Muskulatur stellt ausserdem im Falle einer Erkrankung oder Verletzung
ein erhebliches Risiko dar. Denn der Körper benötigt für Immunabwehr
und Wundheilung grosse Mengen an Stickstoff, die er sich durch Abbau
von Muskelgewebe holt.
Eine gängige Hypothese postuliert als wesentlichen Faktor für das
Schwinden der Skelettmuskulatur auch beim gesunden älteren Menschen
eine altersbedingte Reduktion der Eiweisssynthese, also eine
verminderte Produktion neuer Muskelmasse. Dadurch werde der normale
metabolische Verlust von Muskelgewebe nur ungenügend kompensiert. Dass
dem nicht so ist, hat jetzt Elena Volpi mit ihrem Team an der
University of Southern California in Los Angeles gezeigt. (1)
Die in Texas durchgeführte Studie verglich eine Gruppe 70-jähriger
Männer mit 28-jährigen. Die insgesamt 48 Studienteilnehmer waren etwa
gleich gross und gleich schwer, hatten ein normales Körpergewicht und
waren gesund, aber nicht speziell körperlich trainiert. Gemessen
worden sind das Beinvolumen, der Anteil an Beinmuskulatur sowie die
Aminosäure Phenylalanin in den Beinvenen und -arterien als Indikator
für die Synthese und den Abbau von Muskelproteinen.
Ausgleich dank genügend Eiweiss
Die Auswertung ergab für die ältere Gruppe gegenüber der jüngeren zwar
ein um 10 Prozent geringeres Volumen an Beinmuskulatur. Da sich jedoch
auch beim gesamten Beinvolumen der gleiche Unterschied zeigte, blieb
das Verhältnis Muskelmasse zu Beinvolumen gleich. Beim Stoffwechsel
zeigten die älteren Männer eine leicht höhere Abbaurate an
Muskelprotein, was aber durch eine entsprechend höhere
Syntheseleistung beim Muskelaufbau kompensiert wurde.
So zeigte sich mindestens in dieser Studie - entgegen bisheriger
Meinung - eine im Alter tendenziell sogar gesteigerte Muskelsynthese.
Dazu muss die ältere Person allerdings genügend Eiweiss (mit den
essenziellen Aminosäuren) konsumieren. Dies stimmt mit den Ergebnissen
anderer Studien überein, die für Menschen ab dem 55. Altersjahr einen
höheren Eiweissbedarf von 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht
empfehlen, während früher ab dem Alter von etwa 20 Jahren ein
täglicher Eiweissbedarf von 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht als
ausreichend betrachtet wurde.
Volpi kommt in ihrer Studie zum Schluss, der in der Praxis bei älteren
Leuten beobachtete Verlust an Skelettmuskulatur sei nicht die Folge
eines im Alter veränderten Gleichgewichts des Eiweissmetabolismus,
sondern vielmehr die Konsequenz allfälliger Mangelernährung,
körperlicher Inaktivität sowie möglicherweise hormoneller
Veränderungen. Durch regelmässiges körperliches Training und
ausreichende Ernährung sollte es auch dem älteren Menschen gelingen,
die für den jüngeren Körper typische Muskelmasse zu erhalten.
Eine weitere Studie untersuchte die Hypothese, Übergewicht im Alter
sei durch einen verminderten Grundumsatz und dadurch vermehrten
Fettansatz mitverursacht. (2) Der Grundumsatz ist der Energieumsatz eines
nüchternen, ruhenden Menschen. Er beträgt für einen normalgewichtigen,
gesunden Erwachsenen rund 75 Kilokalorien pro Stunde und macht in der
Regel mit 60 bis 80 Prozent den Hauptanteil des gesamten
Kalorienverbrauchs aus. In einer Untersuchung an 137 Männern hat nun
Rachael van Pelts Team an der University of Colorado in Boulder die
Vermutung einer generellen altersbedingten Abnahme des Grundverbrauchs
widerlegt.
Training bringt Sonderbonus
Verglichen wurden junge Männer mit einem Durchschnittsalter von 26
Jahren mit 62-jährigen Männern, wobei beide Gruppen ein geruhsames
Leben führten. Die älteren Männer hatten gegenüber den jüngeren einen
um 10 Prozent höheren BMI (Body Mass Index) und 48 Prozent mehr
Körperfett. Und in der Tat war der Grundumsatz der älteren Männer
(gemessen anhand der Wärmeproduktion des Körpers) 11 Prozent tiefer
als der der jungen Männer.
Ein anderes Bild ergab sich bei körperlich aktiven Männern. Verglichen
worden sind 27-jährige mit 63-jährigen Männern, wobei beide Gruppen
mehrere Stunden pro Woche Ausdauersport trainierten (Joggen plus
Radfahren, Schwimmen oder Skifahren). Auf den ersten Blick waren auch
hier bei den älteren Männern BMI und Körperfett ähnlich erhöht wie bei
den körperlich inaktiven Altersgenossen. Und der Grundumsatz lag
wiederum im Durchschnitt 11 Prozent tiefer. Berücksichtigt man jedoch
beim Vergleich auch die individuell konsumierten Kalorien sowie den
erbrachten Trainingsaufwand, ergibt sich für beide Altersgruppen ein
Grundumsatz zwischen 70 und 74 Kilokalorien pro Stunde. Ein mit dem
Alter konstant bleibender Grundumsatz hatte van Pelt schon früher für
regelmässig trainierende Frauen nachgewiesen.
Diese Gegenüberstellung von Nahrungsaufnahme, Trainingsaufwand und
Grundumsatz liefert hochinteressante Zahlen: Für jede zusätzliche
Trainingsstunde pro Woche erhöht sich der Grundumsatz um 1,2
Kilokalorien pro Stunde. Dies bringt zum ohnehin durch das
Mehrtraining gesteigerten Energieumsatz sozusagen einen Gratisbonus
beim Grundumsatz. Verbrennt also eine zusätzliche Schwimmstunde pro
Woche etwa 600 Kalorien, schwinden durch den erhöhten Grundumsatz pro
Woche nochmals 200 Kalorien. Aber auch mehr Nahrung erhöht den
Grundumsatz: Zusätzliche 1000 Kalorien pro Tag steigern den
Grundumsatz um 120 Kalorien pro Tag. Durch Schlemmen schlanker werden
kann man jedoch nur, wenn durch entsprechend intensivere Bewegung für
energetische Balance gesorgt ist.
Aus den beiden Studien lässt sich schliessen, dass Muskelabbau und
Fettsucht im Alter keineswegs Schicksal sind und sich mit geeigneter
Ernährung sowie körperlichem Training vermeiden lassen. Als Empfehlung
kann gelten: Auch im Alter tüchtig futtern, aber sich ebenso tüchtig
auf die Socken machen. Dies hat neben einer ausgewogenen Energiebilanz
auch den Vorteil, dass durch Bewegung Knochen und Gelenke gesund
bleiben und eine reichliche und ausgewogene Ernährung vor Mangel an
spezifischen Nährstoffen wie Vitaminen und Spurenelementen schützt.
Quellen: ( 1) JAMA, 286, 1230-1231; 1206-1212 (2001); (2) Am J Physiol.
Endocrinol. Metab., 281, E633-E639 (2001).
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